Von Benjamin Wohlert
Portraitfotografie im Flow – was soll das überhaupt heißen? Für mich ist der Foto-Flow ein Zustand, in dem man praktisch nicht mehr nachdenkt, sondern nur noch intuitiv macht.
Fotograf und Model sind voll auf einer Wellenlänge und das Fotografieren erfolgt komplett aufeinander abgestimmt – ich glaube, das kann man am besten mit gemeinsamem Musizieren vergleichen. Beide wissen, was sie wann tun sollen und „sind im Takt“.
Meiner Erfahrung nach gelingen die allerbesten 1% der Fotos im Flow – Deshalb findest du hier 7 Tipps, um im Flow zu fotografieren und Menschen auf außergewöhnliche und authentische Weise abzulichten.
Passe dich und deine Kommunikation ans Model an
Das, was man auf deinem Foto später sieht, ist das, was du an Kommunikation betreibst!
Spricht die Person gerne selbst viel oder hört sie lieber zu? Dementsprechend solltest du dich dazu passend verhalten, also ein guter Zuhörer sein, wenn die Person gern redet. Umgekehrt ist es deine Aufgabe, selbst mehr die Gespräche zu führen, wenn Du merkst, dass sie lieber eine Zuhörer-Rolle einnimmt.
Um gute Gespräche beim Shooting (bzw. in den Pausen) zu führen, ist es wichtig, dass du den Menschen kennenlernst. Schnell weg von langweiligem Smalltalk!
Stelle offene Fragen, die man nicht nur mit einem „ja“ oder „nein“ beantworten kann. So baust du ein besseres Vertrauensverhältnis auf und schaffst es eher, wirklich „die Person selbst“ auf den Bildern abzulichten. Deine Portraits werden ungestellter, authentischer und echter, wenn du das tust.
Interessiere dich aufrichtig für deinen Gegenüber. Meiner Erfahrung nach kannst du von jedem etwas lernen, durch jeden Menschen deinen Horizont erweitern oder eine andere, neue Perspektive auf viele Dinge kennenlernen. Das ist unglaublich bereichernd nicht nur für die Bilder!
Steigere das Wohlbefinden deines Models
Widme deine ganze Aufmerksamkeit auf die Person vor der Kamera, höre genau zu, nimm jedes noch so kleine Zeichen wahr, gib ihr Sicherheit, mach ihr Mut, schenke ihr das Gefühl, dass sie genau richtig und gut so ist, wie sie ist.
Das hört sich so selbstverständlich und simpel an, höre ich aber oft von Modellen, dass es von vielen Fotografen vernachlässigt wird.
Und es ist ganz und gar nicht einfach, braucht Fingerspitzengefühl und einiges an Erfahrung. Denn jeder Mensch ist anders, und das macht es doch erst so spannend!
Wenn du es hinbekommst, dass sich die Person als der schönste Mensch der Welt fühlt, während sie vor deiner Kamera steht, hast du es geschafft. Lob und Komplimente sind ganz wichtig dabei, sie müssen aber natürlich ehrlich sein.
Oft bekomme ich nach meinen Shootings die Rückmeldung, dass ich „so eine Ruhe ausstrahle“ beim Fotografieren. Und das überträgt sich nach einiger Zeit auch auf die Person vor der Kamera.
Eines ist bei der Portraitfotografie sehr wichtig zu wissen: Emotionen werden immer zwischen Menschen gespiegelt. Bestimmt hast Du davon schon mal gehört. Deshalb ist es wichtig, selbst Sicherheit und Entspannung nach außen zu zeigen, dann wird sich dein Model schnell gut aufgehoben fühlen, selbst wenn es zu Beginn noch sehr unsicher ist.
Weiterhin solltest Du versuchen alles zu vermeiden, das ein negatives Gefühl bei deinem Model aufkommen lassen könnte. Zum Beispiel: Ungewünschte „Zuschauer“ beim Shooting jeglicher Art (auch Assistenten können dazu gehören), Kleidung, in der sich die Person nicht wohl fühlt, Zeitdruck/Stress, unbequeme Sitzgelegenheiten, zu helles Licht, Kälte oder Hitze…
Entwickle ein Gefühl dafür, solche Dinge zu bemerken, zu beseitigen oder am besten im Vorhinein zu verhindern, noch bevor die Person sie selbst spürt und anspricht.
Trainiere es, Licht sehen und einschätzen zu können
Um langfristig gut zu werden und in allen Situationen möglichst starke Bildergebnisse zu erzielen, ist es essentiell wichtig, das Licht sehen und „lesen“ zu lernen.
Doch eines ist nicht zu unterschätzen: Das kann wirklich einige Zeit dauern! Es ist aber so, dass du in dieser Hinsicht alles entscheidest. Dies ist allein deine Aufgabe. Ob hartes oder weiches Licht, viel Licht oder eher wenig, aus welcher Richtung es kommen soll und so weiter – das hat natürlich direkten Einfluss auf die Erscheinung deines Models auf dem Bild.
Diese Entscheidungen kannst du erst richtig treffen, wenn du gesehen hast, wie das aktuell vorhandene Licht gerade fällt. Sie sind die Grundlage für viele weitere Dinge, die du festlegst, wie zum Beispiel Bildschnitt, Aufnahmerichtung und Posinganweisungen.
Daher ist es auch ratsam, zunächst nur mit dem vorhandenen Licht zu arbeiten, weil man dieses beim Fotografieren direkt sehen kann. Ich empfehle, wenn überhaupt, erst später mit Blitzen zu arbeiten. Denn mit Letzteren sieht man das Licht nicht mehr vor dem Auslösen, sondern man muss sich vorstellen können, welche Wirkung der Blitz auf das Bild hat (bzw. dies danach auf dem Kameradisplay kontrollieren und dann gegebenenfalls nachbessern).
Wie lernt man es nun, das Licht zu lesen? Hier ein paar Dinge, die ich gemacht habe:
Bei einem Shooting kannst du dein Model sich im vorhandenen Licht bewegen lassen (z. B. einmal langsam um sich selbst drehen) und dabei selbst mitlaufen und verfolgen, wie und wohin die Schatten fallen und wo zum Beispiel Glanzlichter entstehen. Wenn du in eine Szene bzw. Situation kommst, in der du fotografieren möchtest, mache zunächst die Hauptlichtquelle und ihre Eigenschaften (Richtung, Farbe, Stärke usw.) aus.
Überlege dir, welche Wirkung du auf deinem Foto erzielen willst und ob und wie das mit dem vorhandenen Licht möglich ist.
Außerdem kannst du deinen Blick für das Licht auch im Alltag schulen, wo immer du bist, ganz ohne Kamera, indem du vorhandene Lichtsituationen analysierst. Das geht absolut überall! Ob du im Büro sitzt, irgendwo im Einkaufszentrum in der Schlange an der Kasse wartest oder einfach draußen spazieren gehst – probiere immer, das Licht bewusst wahrzunehmen, einzuordnen und zu bewerten.
Frage dich dabei: „Wie würde ich jetzt und hier ein Portrait machen, wenn ich es müsste?“, und versuche, dir vorzustellen, wie das Ergebnis aussehen würde. All dies kannst du immer und überall tun, um das Licht lesen zu lernen.
Wenn dir noch eine weitere Übung hierzu einfällt, würde ich mich sehr darüber freuen, wenn du sie mir schreibst!
Portraitfotografie: Experimentiere mit der Perspektive
Probiere immer wieder neue Blickwinkel aus – die Positionierung der Kamera zum Objekt (in dem Fall zum Model) ist eines der wichtigsten und mächtigsten Werkzeuge des Fotografen.
Fotografiere mal weit von oben, mal auf Augenhöhe, nimm ein Gesicht mal sehr symmetrisch auf, oder auch stark seitlich. Du wirst dich definitiv stark weiterentwickeln, wenn du mehr solcher Experimente machst.
Und wenn eine Perspektive mal nicht klappt und unschön aussieht? Egal! Dann hast du eben ein wenig Speicherplatz verbraucht, sonst nichts. Dafür bist du aber klüger als vorher! Analysiere auch die Aufnahmewinkel, Bildschnitte und Perspektiven anderer Fotografen.
Beginne einfach bei den Fotografen, deren Bilder dir gefallen. Probiere diese Blickwinkel dann selbst bei deinen Shootings aus.
Fotografiere also ein und dieselbe Pose deines Models aus unterschiedlichen Perspektiven, denn ausnahmslos jeder Mensch hat Winkel, aus denen er am hübschesten aussieht und manche, die weniger vorteilhaft wirken.
Menschen mit großen Nasen gefallen sich selbst zum Beispiel seltener auf einem Bild, wenn sie seitlich fotografiert werden. Hier ist dann häufig eine frontalere Aufnahme besser.
Eine deiner Hauptaufgaben hinter der Kamera ist es, diese besten Seiten einer Person zu finden. Mir persönlich macht diese Aufgabe sehr viel Spaß und ich empfehle immer, sich die dafür nötige Zeit dazu zu nehmen. Es ist immer wieder spannend, auf diese Weise den Menschen und seine verschiedenen Seiten kennenzulernen.
Schaue nicht so oft aufs Kameradisplay und zeige keine Bilder zwischendurch
Ich weiß, es ist verlockend. Man macht ein Foto und möchte direkt schauen, wie gut es geworden ist. Nur mal schnell einen Blick darauf werfen! Schon bist Du wieder raus aus dem Flow.
Jetzt denkst du dir, das Model will doch auch zwischendurch Bilder sehen?
Ich erkläre vorher immer, dass es so meine Art ist, keine Bilder während des Shootings zu zeigen. Das ist bisher immer akzeptiert worden. Solange du selbst nicht ständig am Display hängst, ist das auch gar kein Problem! Und ja, auch hier mache ich manchmal Ausnahmen, wenn ich mir absolut sicher bin, dass das gezeigte Bild der Person zusätzlich Selbstvertrauen gibt und sie nicht verunsichert (siehe unten).
Viele Fotografen sagen, ihre Modelle wollen doch eine Rückmeldung über die Bilder, wie sie auf dem Foto wirken und was sie eventuell anders machen sollten beim Posing bzw. Ausdruck. Sie sagen, das gäbe der Person doch Sicherheit.
Ich verfolge da jedoch einen anderen Ansatz: Beim Fotografieren bin ich verantwortlich für alles, und das Vertrauen zwischen Fotograf und Model kann gerade dadurch wachsen, dass es mir diese Kontrolle überlässt.
Bedenke auch: Das „falsche Bild“, das Du zwischendurch zeigst, kann für viel mehr Unsicherheit sorgen, als ein „richtiges Bild“ für Sicherheit sorgen würde.
Mein Rat: Stelle die Rückschauzeit von Fotos an Deiner Kamera aus. Mache Bildserien von 15-20 Bildern und kontrolliere dazwischen mit einem raschen Blick, ob die Einstellungen der Kamera noch passen. Je erfahrener Du wirst, desto länger können Deine Bildserien werden, bevor Du wieder aufs Display schaust.
Probiere Kreatives, Verrücktes und Ungewöhnliches aus
Nutze dabei Requisiten und Dinge, die nicht alle einfach so kaufen können. Such doch einfach mal, was du so im Haushalt findest. So sparst du Geld und trainierst deine Kreativität!
Zudem werden deine Ergebnisse individueller und du hebst du dich automatisch von den Bildergebnissen anderer Fotografen ab. Wenn du zum Beispiel eine Gardine vom Dachboden deiner Oma für Licht-Schattenspiele verwendest, kann dir das niemand genau so nachmachen!
Um deine Kreativität etwas in Schwung zu bringen, hier einige Dinge aus dem Haushalt die ich schon beim Fotografieren verwendet habe: Gardinen, Glasscherben, Spiegel, Nudelsiebe, Bettlaken, Sand, Wasser, Trinkgläser, Blumen, Taschenlampen, Handys …
Die einzige Grenze ist die deiner Fantasie!
Verlasse deinen fotografischen Wohlfühlbereich
Ja, man hat schon so oft gelesen, dass man seine Komfortzone verlassen sollte. Es kommt einem schon zu den Ohren wieder raus!
Aber es ist etwas dran. Als ich begonnen habe mit der Portraitfotografie, war ich der introvertierteste Typ (kann man das überhaupt steigern?) den man sich vorstellen kann.
Meine Kommunikation war, falls überhaupt vorhanden, auf Deutsch gesagt grauenhaft und voller Unsicherheit.
Und heute? Bin ich immer noch introvertiert, genieße es aber sehr, durch die Fotografie neue Menschen kennen zu lernen und bin sicher in meinem Auftreten.
Ich habe gelernt, dass gut oder schlecht fotografieren zu können NICHTS damit zu tun hat. Wenn es nur eins gäbe, das ich dir mit auf den Weg geben könnte, dann das.
Lass dich nicht von irgendetwas abhalten, schnapp dir deine Kamera und leg los!
Ich wünsche dir ganz viel Spaß, Erfolg und gutes Licht in unserem Hobby und spannende Begegnungen mit tollen Menschen!
Weitere Tipps zur Portraitfotografie finden sich immer mal wieder unter meinen Fotos auf Instagram und natürlich in meinem Buch.
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Autoreninfo:
Benjamin Wohlert macht schwerpunktmäßig Portraits von absoluten Neulingen vor der Kamera. Der 1994 geborene Autodidakt versteht es in besonderer Weise, beim Fotoshooting eine vertrauensvolle Stimmung zu kreieren und den Menschen zu ermöglichen, sich vor seiner Kamera zu öffnen und geborgen zu fühlen.
Dabei ist es ihm wichtig, nicht nur Fotos von jemandem anzufertigen, sondern der Person vor der Kamera ein Gefühl der Wertschätzung, der Sicherheit und des Respekts entgegen zu bringen.
Für ihn sind die Begeisterung, die Dankbarkeit und die Wertschätzung der fotografierten Personen sein größter Antrieb.
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- Wohlert, Benjamin (Autor)
* Amazon Links sind Werbelinks, letzte Aktualisierung am 2024-11-21