Interview mit Martin Rohrmann, Fotojournalist

Martin Rohrmann verweigert sich den klassischen Absichten des Fotojournalismus, der Vermittlung von Fakten und Informationen. Er versteht sich als Fotojournalist einer neuen, ungebundenen Fotografie verpflichtet, deren visuelle künstlerische Ausdruckskraft, die Einfühlung in Themen und Orte, weit über der Vermittlung von Informationen stehen muss: „In der heutigen Zeit werden wir von Informationen überflutet. Reportagefotos müssen deshalb nicht mehr nur die Aufgabe haben, Informationen zu vermitteln. Vielmehr sollten sie dem Betrachter ein unmittelbares Gefühl für die Atmosphäre, den Ort, für die Menschen an diesem Ort geben.

Aus Anlass der Fotoaustellung „Last Search for Beauty“ im Jahre 2007 / 2008 hat Hartmut Ulrich hat mit Martin Rohrmann das folgende Interview geführt, das ich hier noch einmal wiedergeben möchte:

Wenn Journalismus – warum Bild, nicht Text?

Man sucht sich natürlich immer das Medium, welches man glaubt, am besten zu beherrschen. Ich denke und fühle visuell. Selbst wenn ich schreibe (was ich ja tue), dann sind es immer nur Bilder, die ich beschreibe. Wenn ich schreibe, vermittle ich keine Informationen, sondern Bilder in den Worten. Warum also nicht gleich fotografieren? Fotografie ist zeitlos, sie wird immer existieren. Ganz gleich, mit welcher Kamera entstanden, ob der Fotograf arm oder reich ist – am Ende steht immer das Bild.

Du bist schon viel gereist. Kommen Deine Bilder zu Dir – oder kommst Du zu den Bildern?

Ich würde am liebsten immer reisen. Reisen kostet aber leider viel Geld, und wenn man keinen Auftrag hat oder alles vorfinanzieren muss, dann ist das alles sehr schwierig. Wenn ich reise, reise ich nicht, um mich zu entspannen oder um faul am Strand zu liegen. Ich reise, um zu fotografieren. Allerdings fotografiere ich ja nicht “beiläufig” wie es Touristen tun, sondern ich suche mir im Vorfeld bzw. vor Ort ein Thema oder eine bestimmte Thematik. Am Ende jeder Reise, vorm Rückflug, mache ich dann ein oder zwei Tage meine sogenannten “Touri-Tage”. Dann lass ich die Kamera im Hotel und kaufe Mitbringsel, besichtige Sehenswürdigkeiten und genieße das “Touristendasein” ohne meine eigenen Erwartungen erfüllen zu müssen, an diesem Tag gute Fotos zu machen.

Du studierst Fotografie mit dem Schwerpunkt Fotojournalismus. Der Pressetext zur Ausstellung schreibt, dass Du Dich den klassischen Absichten des Fotojournalismus „von Anfang an verweigert hast“. Wie geht das zusammen? Darf ein Künstler Fotojournalist sein oder umgekehrt?

Ich glaube fest daran, dass die Persönlichkeit des Fotografen eine große Rolle spielt. Ich sehe den Fotografen definitiv nicht als Lieferant für Redaktionen und Agenturen. Der Fotograf muss heute seine Rolle als Schöpfer (auch im Bereich Journalismus) erkennen. Kunst und Fotojournalismus geht wunderbar zusammen. Fotojournalismus ist auch auf dem Kunstmarkt gerade ein großes Thema. Es gibt Fotostrecken, die hingen zuerst in Galerien oder Ausstellungen, bevor sie klassisch in Zeitungen oder Magazinen publiziert wurden. Das Wort “Künstler” ist heute leider sehr diffus. In Zeiten des Internet halten sich viele, die mal einen Volkshochschulkurs im kreativen Aquarellmalen besucht haben, sofort für Künstler und stellen ihr „Bildnisse“ dann auf ihrer Homepage aus. Ich würde von mir nicht sagen, ich sei Künstler. Nicht weil ich so bescheiden bin, sondern weil das Wort Künstler heute wenig Aussagekraft hat. Ich würde eher sagen, dass ich unter “künstlerischen Gesichtspunkten” arbeite. Aber auch was “künstlerische Gesichtspunkte” sind, bleibt diffus und subjektiv.

Können Bilder heute noch genügend erzählen – oder reicht es, wenn alle meinen, sie würden etwas erzählen? Ist das Leben nicht zu komplex geworden, um die Dinge aus einer einzigen Perspektive betrachten zu können? Kann ein Foto noch die ganze Geschichte erzählen?

Sicherlich kann eine Fotoreportage narrative Elemente haben. Ich bin mir aber nicht sicher, ob eine Fotostrecke überhaupt eine Geschichte erzählen kann oder jemals konnte – zumindest keine wirklich komplexen Geschichten. Natürlich gibt es universelle Themen wie Krieg, Tod, Trauer, Liebe, Hass, Zerstörung, Freude – da kann der Fotograf dem Betrachter anhand nur weniger Bilder begreiflich machen, worum es geht. Sobald aber die Thematik komplexer wird, davon bin ich überzeugt, brauchen Bilder einen kurzen Begleittext, damit sie verständlich werden. Meine Porträtserie über die autistischen Kinder beispielsweise – ohne den Begleittext wüsste man nicht, was genau mit diesen Kindern ist. Man würde es als Betrachter nicht verstehen, nur vielleicht, dass mit den Kindern “etwas nicht stimmt”. Trotzdem ist das kein Versagen des Fotografen. Und selbst mit diesem Begleittext, bzw. den Bildunterschriften können die Bilder “nur” einen Eindruck für das Geschehen, den Ort, die Menschen, die Situation geben. Aber es ist auch nicht die primäre Aufgabe der Fotografie, Informationen zu vermitteln. Wer Informationen will, soll ein Lexikon oder ein Fachbuch zum Thema lesen. Wenn also ein einzelnes Foto ein Gefühl, eine Atmosphäre vermittelt (die natürlich immer subjektiv empfunden wird), dann ist das schon ziemlich gut. Wenn eine Fotostrecke aus mehreren Fotos dieses Gefühl, diese Atmosphäre verdichten und verstärken – dann ist das eine starke Leistung des Fotografen!

Was verstehst Du unter “neuer, ungebundener Fotografie”? Woran erkennt man sie – in Deinen Bildern?

“Neue, ungebundene Fotografie” ist natürlich immer das Ideal. Jeder will natürlich neu und ungebunden sein. Das ist mehr ein Weg, denn ein schon erreichtes Ziel. Ich bin 26 Jahre und ich bin noch nicht am Ende angekommen. Das merke ich schon, wenn ich meine Bilder von vor zwei Jahren betrachte. Man entwickelt sich weiter. Damit meine ich nicht, dass man wild rumprobiert oder nicht weiß, was man tut. Es ist viel mehr das Formen der eigenen Bildsprache, eines unverwechselbaren Stils. Die Fotografie verändert sich stetig. Henri Cartier-Bresson mutet mir heute unter visuellen Aspekten teils sehr altbacken an. Dennoch sind seine Leistungen zeitlos. Es geht nicht darum, Trends hinterher zu hecheln, die es natürlich auch in der Fotografie gibt. Es geht darum, dass man als Fotograf eine Position findet, in der die eigenen Bilder ruhen können. Was ich mir für meine Bilder wünsche, ist visuelle Kraft und dass die Bilder nie zu konkret werden. Ich mag keine konkrete Fotografie, die abgeklärt ist, die einem zeigen will, wie etwas wirklich ist.

Was bedeutet Dir Schwarz-Weiß-Fotografie – und was bedeutet sie noch im 21. Jahrhundert?

Da gibt es ja die klassischen Antworten: Weil s/w das Wesentliche betont, weil s/w eindringlicher ist, eleganter, elitärer, künstlerischer – und neulich meinte sogar jemand, weil s/w in Photoshop leichter zu bearbeiten ist als Farbe (naja). Ich mag beides, Farbe und s/w. Es kommt immer auf das Thema an, ob die Bilder dann in Farbe oder in s/w ausgearbeitet werden. Ich denke s/w Fotografie ist zeitlos, gerade in der Werbung erlebt sie ein “Comeback”, vorwiegend im hochpreisigen Sektor von hochwertigen Produkten. In Nachrichtenredaktionen, bei Agenturen und im Editorialbereich, so sagt man, wäre Farbe derzeit wesentlich beliebter und „verkäuflicher“.

Ich mag s/w, weil die Tiefen und Lichter mir hervorragende Möglichkeiten geben, mit der Dramatik eines Bildes zu spielen. Flaue matte oder auch klassisch-”brave” s/w Bilder, die einfach nur von Farbe in s/w umgewandelt wurde, finde ich persönlich langweilig.

Wenn alle Bilder verstörend und schockierend sind, schockiert bald überhaupt nichts mehr. Horst Stern hat dafür den berühmten Begriff von der “ermüdeten Wahrheit” geprägt. Wie lebt es sich heute mit dieser Erkenntnis als jemand, der erst am Anfang seiner Karriere steht?

Schockieren ist sehr leicht. Aber dann auch meist nur oberflächlich und primitiv. Ich denke die Leute, die Betrachter sind nie von der Wahrheit ermüdet, sondern nur dadurch, wie diese Wahrheit präsentiert wird. Ein Foto von einem abgerissenen, blutigen Kopf bei einem Selbstmordanschlag im Irak oder Afghanistan lässt den Betrachter höchstens noch denken: “Boah, krass, was da abgeht”. Aber es ist weit weg, es ist diffus, es ist wie aus einem Action-Film. Man stumpft ab, im Fernsehen laufen die Texteinblendungen unten in der Bauchschrift von Anschlägen ja im Stundentakt. Jede Stunde ein neuer Anschlag, nach dem Motto: “Übrigens, wussten Sie schon?”

Zeigt man nun aber denselben Vorgang, einen Selbstmordanschlag aus Sicht der Opfer, der Angehörigen, der Polizei – den Terror der plötzlich in den Frieden stürzt – dann wird das die Leute länger und intensiver beschäftigen, obwohl es im Grunde genommen “die gleiche Wahrheit”, also ein Selbstmordanschlag ist. In meiner Ausstellung in Berlin zeige ich eine Serie (Last Search for Beauty) um einen Verstorbenen, der im Zustand des Todes sehr “unvorteilhaft” aussieht, womöglich sogar schockierend und dann von einem Fachmann wieder rekonstruiert wird, sodass am Ende der Serie der Eindruck entsteht, der Tote würde nur friedlich schlafen. Dieser Verwandlungsprozess ist Alltag in Deutschland, im Bestattungswesen und nicht so fern wie ein Anschlag im Irak. Sicherlich können diese Fotos aus dieser Serie auch provozieren, aber sie tun es nicht auf einer niveaulosen oder respektlose Ebene. Im Gegenteil. Was ich zeige, ist zwar alltäglich aber trotzdem verborgen und wenn es jemanden schockieren sollte, dann nur deshalb, weil der Tod ein Tabuthema ist und nur irreal real aus den Nachrichten zu uns dringt oder wenn es einen Todesfall in der Familie gab.

Wettbewerbe wie der World Press Photo Award tun sich spürbar schwer damit, eine klare Grenze zwischen unverfälschten, also unbearbeiteten Bildern zu definieren. Die Grenze verliefe dort, wo klassische Dunkelkammerarbeit endet. Wo verläuft sie für Dich? Wo verläuft heute die Grenze zwischen Journalismus und Kunst? Hat sich etwas geändert in den letzten 50 Jahren?

Heute vertraut der Betrachter keinen Bildern mehr, er vertraut dem Fotografen. Unseriös wird es dann, wenn eine journalistische oder wissenschaftliche Fotografie, die Fakten oder eine Wahrheit zeigen soll, verfälscht wird, um einen stärkeren Effekt zu erzielen. Man darf natürlich nicht eine Bildoptimierung mit einer Bildmontage verwechseln. Bildoptimierungen wie Helligkeit, Farbkorrekturen, Abwedeln, Nachbelichten, Kontrast usw. sind Gang und Gebe.

Wenn aber ein Naturfotograf das Wasser eines Sees am Computer rot einfärbt, obwohl es blau ist und behauptet, dass das Wasser rot sei, dann ist das natürlich eine Bildverfälschung – weil gelogen. Im Grunde ist es doch ganz einfach: Hol das Beste aus dem Bild raus, pass es Deiner Intention an, aber betrüge nicht den Betrachter! Wie gesagt, ich sehe mich in erster Linie als Reportagefotograf. Und ein Reportagefotograf ist kein Märchenonkel, auch wenn er sich durchaus visuelle Freiheiten nehmen darf, um das Bild visuell zu intensivieren. Für mich ist die Nachbearbeitung auch ein wichtiger Schritt um die Intention des Fotografen zu verdeutlichen. Mit den Richtlinien beim World Press Award kenne ich mich nicht aus, ich bin aber sehr zuversichtlich, dass verfälschte und montierte Bilder dort kaum eine Chance haben.

Was ist für Dich Schönheit?

Einfache Dinge. Fotografieren zur blauen Stunde, klares Wasser. Aber auch ein Herbststurm oder Wellen am Meer. Wenn der kalte Regen an der Scheibe herunterläuft, wenn Sonnenstrahlen durch dunkle Wolken brechen.

Mehr Informationen über den Fotografen Martin Rohrmann auf seiner Homepage.

2 Kommentare zu „Interview mit Martin Rohrmann, Fotojournalist“

  1. Pingback: Hat nichts von seiner Aktualität verloren « Hartmut Ulrich – Randbetrachtungen

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